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Die Engelmesse überm Balmenstein

Oberhalb Eisten heisst ein Ort Balme. In einer nischenartigen Höhle unter einem Felsvorsprung – dem Balmustein – lebte einst der Balmenmann und seine Frau.

Weil der Balmenmann nur an höchsten Festtagen nach Kippel zur Messe kam, liess der Prior ihn zu sich rufen. Der Mann erschien rechtzeitig im Pfarrhaus und machte einen ehrfürchtigen Knicks vor dem Hochwürdigen Herrn Prior. Dieser hiess ihn den verwitterten Hut abnehmen.

Weil der Balmenmann in der pfarrherrlichen Stube keinen freien Nagel finden konnte, hängte er den Hut einfach an einen Sonnenstrahl, der durchs Fenster ins Zimmer schien. Der Prior staunte und erkannte nach einem langen Gespräch etwas Seltsames in diesem Mann. Er verabschiedete ihn, ohne den geplanten Vorwurf wegen der seltenen Kirchenbesuche, und liess sich beim Abschied gerne zu einem Gegenbesuch hinauf in die Balme einladen.


Mit gehörigem Hunger verzehrte der Prior das karge Mahl und legte sich dann zu einem Verdauungsschläfchen nieder. Mitten in seinem Mittagstraum kehrte das Balmenpaar, sonntäglich aufgeputzt und vor Glück strahlend, von ihrer Messe zurück. Wieder konnte der Pfarrer nur staunen und nur verständnislos sein greises Haupt schütteln.


Nach dem eigentlichen Sonntagsmahl nahm der Balmenmann den geistlichen Herrn zur Seite und sagte: „Kommt, Hochwürden, ich will euch zur Messe führen!“ Damit war der Prior gern einverstanden, und beide stiegen durch den Wald hinauf zur „Bliejendu“. Mitten in einer Lichtung liegt hier ein grosser, flacher Stein. Auf diesen gingen sie zu und blieben auf ihm stehen.


Der Balmenmann sagte zum Pfarrer: „Stellt euch auf den rechten Fuss und schaut über meine linke Schulter! – Was seht ihr nun?“ „Um Gottes Willen, das ist ja der Himmel!“ stammelte der Prior verzückt. Seine Augen öffneten sich sperrangelweit und tranken gierig den Himmelsglanz.


Nach viel zu kurzer Zeit befahl der Balmenmann: „So, nun stellt euch auf den linken Fuss und schaut über meine rechte Schulter!“ Auch dies tat der Pfarrer. „Was könnt ihr sehen?“ fragte der Balmenmann. „Zum Teufel, nein!“ – stotterte der Pfarrer nach einer Weile, „ich sehe die Hölle!“ In seinem Schrecken riss er die Augen noch weiter auf und in seinem Gesicht spiegelte sich Graus und Gräuel dieses schrecklichen Ortes.


Dann stieg er vom Stein herunter, faltete die Hände spontan zu einem Gebet und machte mit ernstem Gesicht das Zeichen des Kreuzes über sich und dem Ort. Still und schweigend kehrten die beiden Männer zurück zur Balme. In der Hütte nahm der Pfarrer freundlich Abschied von der Frau und den herzigen Kindern und drückte ihnen wehmütig die Hand, als ob er am liebsten hier oben geblieben wäre. Der Balmenmann begleitete den geistlichen Herrn noch bis Eisten. Beim Abschied sagte der Prior: „Ja, wahrlich, ihr seid gute und fromme Leute hier oben, das durfte ich heute erfahren. Habt Dank für alles.“ Der Prior schüttelte dem Balmenmann die Hand und schritt dann mit langen Schritten und tief in Gedanken versunken talabwärts, Kippel entgegen.

 

Sagenstation Nr. 8 vom Lötschentaler Sagenweg
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