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Das Gedankengut der Sagenwelt

An langen Winterabenden oder nach besonders eindrücklichen Ereignissen erzählte man sich früher Sagen – „Zellätä“ (Erzählungen) oder „Boozungschichtä“ (Geistergeschichten). Viele Begebenheiten konnten damals nicht gedeutet werden und in den Sagen wurden Erklärungen gesucht – und gefunden. Es gab viele Geschichten über unerklärliche Vorfälle wie das Wirken von Wildbächen („Horloiwinun“) und Lawinen („Lauwitieri“). Furchtlose Menschen hatten auch früher schon viel seltener Erlebnisse der übersinnlichen Art.
Für viele Begebenheiten fand sich eine einfache Lösung, wenn der Sache auf den Grund gegangen wurde. Heute werden die Ursachen von Katastrophen eher im Rückgang des Permafrostes als im Wüten eines „Berggeistes“ gesucht. Das Radio und später das Fernsehen haben in den letzten Jahrzehnten die Sagenwelt fast vollständig verdrängt. Zu dieser Verdrängung hat aber auch der Wandel in der Wohnkultur und in der beruflichen Tätigkeit beigetragen. Jedes Bergdorf hat heute eine Strassenbeleuchtung und es gibt kaum mehr dunkle, Furcht einflössende Ecken und Orte, wo es nicht geheuer ist. In der Nacht ist kaum mehr jemand zu Fuss unterwegs und der Motorenlärm übertönt undefinierbare, unheimliche Geräusche in der Natur.
Durch die Sagen wurde die Erinnerung an die Geschichten der Vergangenheit aufrecht erhalten - Kriege, harte Winter, Missernten - und viel Erziehungsweisheit vermittelt: „Ehre und guter Ruf der Mitmenschen sollen dir heilig sein; benimm dich nicht frevelhaft ausgelassen; ehre Vater, Mutter und die Grosseltern; Lüge, Diebstahl und jedes andere Unrecht musst du später büssen...!“
Es liegt auf der Hand, dass bei der Entstehung einer Sage auch die Kultur eine wichtige Rolle spielte. In einer Gegend mit rauhem und kaltem Klima muss der Sünder nicht in der Hitze büssen, da wird er viel eher in die Eiseskälte eines Gletschers verbannt. Und ein übermütiger Jüngling springt nicht ins wilde Meer, sondern steigt hinauf in die Berge, um seinen heldenhaften Mut zu beweisen, der ihm dann zum Verhängnis wird ... Heute haben Regenbogenpresse und Boulevardzeitungen weitgehend die Funktion der modernen Sage übernommen.

Quelle: Text der 1. Sagenstation des Lötschentaler Sagenwegs